Trollinger, Trockenmauern und mehr
– Bemerkungen zum landschaftsprägenden Weinbau am Neckar
Dr. Dietmar Rupp
LVWO Weinsberg
Der Neckar ist die Hauptader des württembergischen Weinbaugebiets. Auf 250 Flusskilometern nimmt er seinen Weg vorbei an den Juraschichten der Schwäbischen Alb, berührt südöstlich von Stuttgart das Keuperland und schneidet sich in tiefen Windungen durch den Muschelkalk nach Norden.
Je nach Härte und Widerständigkeit der anstehenden Gesteinsschichten bildeten sich flache oder steilere Hänge und wechseln weite Talauen mit extremen Prallhängen.
Ebenso wechselt das Baumaterial für die Trockenmauern der Rebterrassen. Während oberhalb der Landeshauptstadt Stuttgart behauene Keupersandsteine die rötlichen Mergel vor dem Abrutschen sichern, sind die Mauern und Staffeln am mittleren und unteren Neckar vor allem mit dem dort anstehenden Muschelkalk ausgeführt.
Abb. 1: Trockenmauern bestimmen den Charakter der Rebhänge am Neckar
Bekannt ist der Muschelkalk vor allem durch zahlreiche Muscheln-, Seelilien- und Ceratitenfossilien. Ceratiten gehören zur ausgestorbenen Tiergruppe der Ammoniten und sind verwandt mit den heute noch vorkommenden Tintenfischen. Ähnlich wie Schnecken konnten sie sich bei Gefahr in ein schützendes Kalkgehäuse zurückziehen. Kaum vorstellbar, dass die Steinpakete, auf denen heute unsere Reben gedeihen, vor über 230 Millionen Jahren Ablagerungen eines tropischen Meeres waren!
Am mittleren und unteren Neckars ist vorwiegend der Obere Muschelkalk, der sogenannte Hauptmuschelkalk anzutreffen. Bis aus diesem Kalkgestein jedoch feinerdereicher Boden wird, muss durch kohlensäurehaltiges Wasser der Kalk ausgelöst und der verbleibende Rückstand angereichert werden. Wo das Sickerwasser entlang stauender Schichten wie am Mundelsheimer Käsberg wieder zum Vorschein kommt, wird der abtransportierte Kalk wieder ausgefällt. Entlang von Wasserrinnen bilden sich dann schwammartige Kalktuffe.
Zeugnis alter Rebkultur
Urkundlich fassbar wird der Weinbau des Neckarlandes erstmals im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts in der Talweitung der Heilbronner Mulde. Bereits das schwäbische Wort "Wengert", also "Weingarten", weist auf die Anlage von Rebflächen in der Ebene hin. Es dauerte einige Zeit, bis die Weingärten tatsächlich zu Weinbergen wurden. Aus dem 11. Jahrhundert finden sich die ersten schriftlichen Hinweise auf Weinbau im mittleren Neckartal. Dennoch gilt als gesichert, dass die Mehrzahl der terrassierten Steillagen erst später, etwa zwischen 1200 bis 1400 entstanden sind.
Es müssen triftige Gründe gewesen sein, die den Weinbau in die extremen Berglagen hineingebracht haben. Da die Weinrebe eine wärmeliebende Pflanze und das Produkt Wein ein begehrtes Wirtschaftsgut war und ist, kommen im Grunde nur klimatische und wirtschaftliche Gründe in Frage.
So verzeichnete das Hochmittelalter eine ausgesprochene Warmzeit. Es war die Zeit, in der Grönland tatsächlich ein grünes Land war und auf der Schwäbischen Alb oder in Pommern Reben gediehen. Für das 16. und 17. Jahrhundert ist hingegen in Mitteleuropa ein Rückgang der Jahresmitteltemperatur, also eine "kleine Eiszeit", belegt. So ist es verständlich, dass sich die Weinrebe nach und nach von Gegenden wie der rauen Alb an den Neckar und in die "Sonnenstuben" des Landes zurückzog.
Auf der anderen Seite wurde es immer schwieriger, die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Das Land für Brotgetreide war knapp, der Weinbau der Ebene kam in Konkurrenz mit Ackerfrüchten. So wurde das Ausweichen des Weinbaus in die extremen Steillagen und das Errichten von Terrassen folglich mehr oder weniger obrigkeitlich angeordnet. Unter anderem schreiben die württembergischen Generalreskripte von 1554 und 1565 vor, dass "kein Boden der zu Äckern, Wiesen, Gärten oder zu Holzgewächs tauge, zu Weingart angelegt werden solle. Nur Dornbüsche, Hecken und ungeschlachte Wildnis, wenn sie zu sonst nichts, wohl aber zu Weingart taugen", konnten mit Reben bestockt werden.
Auffallend ist das Mauerwerk der Terrassenlagen. Neben der erst dadurch möglichen Zugänglichkeit der übersteilen Hänge ergibt die Wärmespeicherung der Mauern eine weitere Verbesserung des Mikroklimas. Dabei gründet ein großer Teil der heutigen Weinbergmauern wohl noch auf den Fundamenten der ersten Anlagen oder ist zumindest Jahrhunderte alt.
Am eindrucksvollsten ist diese treppenartige Kulturlandschaft im oberen Muschelkalk, vor allem an Neckar und Enz. Hohe Mauerwände ragen über schmalen Kleinterrassen, durchbrochen von steilen, engen Staffelstiegen. Um welche riesigen Mauerflächen es sich handelt, zeigt eine Berechnung, nach der im Neckarbogen oberhalb von Besigheim ein 90 m hoher Weinberghang mit 35 Terrassen auf einen Kilometer Länge rund 52.000 m² Mauerfläche enthält. Dies entspricht der Fläche von 8 Fußballfeldern!
Ein anderes landschaftlich reizvolles Glied der Weinberglandschaft des Neckarlandes sind die Steinriegel die als mächtige Steinwälle durch die Rebhänge ziehen. In Jahrhunderten wurden die Lesesteine seitlich der Weinberge angehäuft. Wie die Mauern sind sie Denkmäler unermüdlichen Wengerterfleißes.
Lebensraum mit südlichem Flair
So hat die Inkulturnahme
des ursprünglich natürlich bewachsenen Geländes erst
die Voraussetzungen für die Entwicklung des
eigentümlichen Lebensraums des Weinbergs mit seinen besonderen
klimatischen und ökologischen Verhältnissen geschaffen:
die ursprüngliche Flora wurde auf Restflächen
zurückgedrängt, an ihre Stelle trat die
bewirtschaftete Weinbergfläche mit dem Mauerwerk der
Stützmauern und den Steinriegeln. Nach und nach wanderten
zahlreiche an die besonderen Verhältnisse angepasste
Neubürger und Gäste ein, vor allem wärmeliebende und
Trockenheit vertragende Pflanzen.
Abb. 2: Typisch für die Muschelkalkhänge am Neckar - Nebeneinander von Rebflächen, Felsen und Gehölzen
Neben der in Flaschen abfüllbaren Qualität leisten unsere Steillagen also etwas zusätzliches für den Naturhaushalt. Es sind nicht nur die Weinbergmauern, auch mit den bewachsenen Felsen ragt nach Ansicht des vielseitigen Forstmanns, Geologen und Naturschützers Otto Linck noch ein Stück ursprünglicher Natur den geordneten Weinbergraum des Neckarlandes hinein: "Es sind besonders die Schichtköpfe des oberen Muschelkalks an Neckar und Enz, die die Landschaft prägen. Mit senkrechten, klüftigen Steilwänden und ragenden Zinnen unterbrechen sie die geschwungene Kurve der Weinbergshänge. Dabei sind die Weinberge geradezu mit den Felsen verzahnt. Auf kleinen Stufen klettern die Rebstöcke an ihnen hoch, unmittelbar geht die künstliche Mauer des Weingärtners in die gebankte Muschelkalkwand über."
Im Muschelkalkweinberg ist der Winter kurz. Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen im zeitigen Frühjahr eröffnet eine Verwandte der Christrose, die Stinkende Nieswurz, als typische Kalkpflanze den Reigen der Vegetation. Auf den Trockenrasen finden sich Schafgarbe, Flockenblume, Skabiosen, ja sogar Knabenkräuter als Vertreter der Orchideen.
Eine Vielzahl vergessener Gewürz-, Heil- und Färbepflanzen können im und am terrassierten Steillagenweinberg gedeihen. Auf Randflächen wachsen Salbei, Wermut, Lavendel oder Melisse. Ganz zu schweigen von Althea officinalis, der Eibischpflanze, aus deren Rhizom ein scheußlich schmeckender aber hervorragend wirkender Hustensaft hergestellt werden kann.
In einem Buch der Hohenheimer Botanikerin Udelgard Körber-Grohne dient Hessigheim am Neckar als ein Beispiel für die Verbreitung alter Färbepflanzen in Süddeutschland. Die Rede ist dort vom sogenannten Färberwaid. Aus Südeuropa eingeführt, war der Waid im warmen Weinbaugebiet willkommen und seit alter Zeit bis ins 19. Jahrhundert wurde aus seinen Blättern durch Vergärung das begehrte Indigoblau gewonnen.
Gelbe Farbstoffe lieferten die Färberkamille und die Wilde Resede. Ob früher auch rotfärbende Pflanzen gezielt angebaut wurden, um notfalls einem schwachen Rotwein "etwas aufzuhelfen", ist nicht überliefert.
Nicht zuletzt bieten die sonnigen Steilhänge auch Platz für viele Insekten, wovon am meisten die Schmetterlinge ins Auge fallen. Doldenblütler wie die Wilde Möhre geben Nahrung für den Schwalbenschwanz und wenn man Glück hat, sieht man über den Terrassen weitere Schmetterlinge wie Pfauenaugen, Bläulinge, Bären und Eulen. Am Boden sind die blanken Felsen und die warmen Mauern mit ihren Ritzen das Revier der Eidechsen.
Mauerweinberge: betriebs- und arbeitswirtschaftliche Problemfälle
Die terrassierten Weinberge des Neckarraumes mit ihren Trockenmauern sind ein von Menschenhand geschaffenes Kulturdenkmal mit ökologischer Tiefenwirkung.
Der Tourismusmanager kann sich begeistern und der Ökologe ist fasziniert vom Lebensraum der Trockenmauern und Steinriegel. Nur der Wengerter, der in den Terrassen arbeitet, blickt sorgenvoll in die Zukunft. Ihm droht vielleicht die Aufnahme in die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Denn auch im Weinbau ist heutzutage die Rentabilität das Maß aller Dinge.
So gilt in hiesigen Direktzuglagen gegenwärtig ein Arbeitszeitbedarf von 500 Stunden pro Hektar und Jahr als normal, vollmechanisierte Visionäre in der italienischen Poebene sind dabei, die 100 Stunden-Marke zu unterbieten. Für die Bewirtschaftung von einem Hektar Terrassenweinberge sind dagegen pro Jahr fast 1.200 Stunden nötig. Und dies bei sinkenden Erlösen.
Das Kernproblem liegt nicht nur bei der fehlenden Mechanisierung der Weinbergsarbeiten im Steilhang, sondern vor allem im Erhalt der Mauern. Größte Mühe macht es den Bewirtschaftern, eingefallene Mauern wieder zu errichten oder wacklige Mauerteile vor dem Einsturz zu bewahren.
Die technischen Möglichkeiten zur Zeiteinsparung in den Terrassen sind begrenzt, der Bau von Einschienenzahnradbahnen oder die bisher übliche Hubschrauberspritzung sind die wenigen Lichtblicke.
Fallen Flächen aus der Bewirtschaftung, machen sich zunehmend mehrjährige Pflanzen wie das Kanadisches Berufkraut breit. Früher oder später siedeln sich einzelne Sträucher an. Zunächst überwiegen Brombeeren, Schlehen, Liguster und Hartriegel. Fassen dann andere Gewächse wie Eichen, Kirschen oder Elsbeeren Fuß, so geht der Busch in einen Wald über, der in den meisten Fällen das Endglied der Entwicklung auf den alten Weinbergflächen bildet.
Aufgelassene Weinberge, von Schlehen überwucherte Mauern, eingestürzte Terrassen jedoch verlieren ihre bisherige ökologische Funktion und uniformes Dorngestrüpp ist für die Tourismusbranche ohne Wert.
Haben die terrassierten Weinberge am Neckar eine Zukunft?
Ohne Zweifel anerkannt sind arbeitswirtschaftliche Erschwernisse in Steillagen, daher wurden bisher für die Wiederanpflanzung oder die Errichtung von Zahnradbahnen von staatlicher Seite Zuschüsse gewährt. Auch im Marktentlastungs- und Kulturlandschafts-Ausgleichsprogramm (MEKA) des Landes wurden die Terrassen bislang berücksichtigt.
Staatliche Fördermaßnahmen können zwar gewisse Impulse auslösen, sind aber keine langfristige Absicherung. Keinesfalls kann auf diese Weise der arbeits- und betriebswirtschaftliche Vorteil der maschinell bewirtschaftbaren Lagen ausgeglichen werden.
Auch die Pflanzung pilzresistenter Rebsorten wird "kälbernde" Mauern nicht stabiler machen und daher nur bedingt weiterhelfen.
Trotz harter Arbeit im Weinberg wird daher das Überleben der Steillagen nicht in den Schrannen, sondern in der Weinvermarktung und über den Erlös gesichert werden müssen.
Allerdings wird die Weinvermarktung immer schwieriger. Die Konzentration im Bereich des Handels, die kostengünstig produzierende Konkurrenz sowie die gesunkene Konsumbereitschaft hat einen enormen Preisdruck zur Folge.
Ob vor diesem Hintergrund die Einzigartigkeit der Terrassenlagen tatsächlich noch als Mittel zur Produktdifferenzierung und Preisstabilisierung genutzt werden kann, ist fraglich.
Andererseits bestaunt der weltreisende deutsche Urlauber die Vielfalt fremder Länder, klettert in den Terrassenbauten der Inka und fotografiert die treppenartig angelegten Reisfelder in Südostasien oder die Terrassenäcker auf der Kanareninsel Gomera. Was kann man daher tun, um Reisende und Daheimgebliebene ihn für die heimischen Terrassenkulturen am Neckar zu begeistern ?
Vielleicht reifen gute Ideen bei einem Glas Wein, dem eigentlichen und ursprünglichen Produkt der Terrassenweinberge. Wie wir sehen, ist ein Kennzeichen der Muschelkalkhänge die gute Erwärmbarkeit des Bodens und die hohe Wärmegunst der steilen Terrassen. Abhängig vom Einwurzelungsvermögen der Reben in den klüftigen Untergrund, prägt somit nicht nur der Mineralbestand sondern auch der Wasserhaushalt der Standorte den Charakter der Muschelkalkweine. Feingliedrige oder auch mehr voluminöse Noten verbinden sich dann mit Rauchtönen und verhaltenen Röstaromen. Gepflegt und entwickelt durch fachkundige Kellermeister ist dies dann wohl das "Bodeng'fährtle", für das man im internationalen Sprachgebrauch den Begriff "Terroir" gefunden hat.
Abb. 3: Trollinger in Terrassenlagen des Neckartales
Sehr schön haben dieses Zusammenwirken von Landschaft, Klima, Boden, Rebe und Mensch bereits vor zwanzig Jahren die Weinautoren Kurt Geier und Alfred Hofmann auf schwäbisch-bescheidene Art beschrieben: "... trotz der Mannigfaltigkeit seiner Sorten ist er im Ausdruck das, was er von Natur aus ist: ein echter, rechter, Württemberger. Er verbirgt sich nicht. Er macht kein Geheimnis aus seiner Herkunft. Jawohl sagt er, ich bin ein Bodenständiger. Der Duft der Landschaft ist in mir und wer ihn nicht zu schmecken vermag, der bleibt am besten beim Mineralwasser."
Der Text fußt auf einen Vortrag anlässlich des Neckarkongresses der Naturschutzakademie Baden-Württemberg am 29.4.2005 in Ludwigsburg.